Donnerstag, 28. März 2013
Die Erlösung folgt übermorgen
Wir nutzten die milden Tage zum Jahreswechsel zu einer Wanderung im Erzgebirgsvorland. Nach einem Querfeldeinmarsch kamen wir in ein Dorf. Während wir uns noch zu orientieren versuchten, kam ein Mann mit freundlichem Gesichtsausdruck auf uns zu. Man grüßte gegenseitig und sogleich fragte er nach unserem Weg.
„Sie sind in Mühlbach“, erklärte er. „Und mit mir lernen Sie den bedeutendsten Mann dieses Ortes kennen“
(Ah, der Bürgermeister)
„Ich bin der Mann des dritten Jahrtausends“
(Ein Prominenter, der aufs Land gezogen ist)
„Ich bin der Messias!“
Eine solche Offenbarung kommt wie ein Donnerschlag. Man ist auf so etwas nicht vorbereitet. Vor wenigen Minuten war es noch unsere einzige Sorge, unter Weidezäunen hindurch zu kriechen, ohne uns mit Schlamm vollzuschmieren. Das Dorf war ganz unscheinbar, der Mann auch. Einundsechzig Jahre sei er alt, erzählte er, und dieses Jahr müsse er das nun endlich machen - mit der Erlösung. Nächstes Jahr, fügte er schnell hinzu, es war ja kurz vor Silvester. Den Weg nach Reinhardtsgrimma konnte er uns zeigen und ging ein Stück mit uns. Während ich darüber nachsann, wie skurril diese an sich völlig alltägliche Situation innerhalb weniger Sekunden geworden war, plauderte mein Mann ganz ruhig mit ihm, brachte dieses und jenes Thema ein, fand sogar Gemeinsamkeiten. Er schien ein Naturtalent in Krisenintervention zu sein, während ich noch nicht wusste, worüber und wie ich mit unserem Begleiter überhaupt reden sollte. Ich versuchte, ihn einzuschätzen, so gut das eben geht. Ist er so harmlos, wie er aussieht? Das kann man nie wissen! Bloß nichts Falsches sagen, nur nicht eskalieren!
Konnte der Tag nicht so ruhig und erholsam bleiben, wie er begonnen hatte? Unser Begleiter hat seinen bürgerlichen Namen dem des Erlösers hinzugefügt. Gestern erst habe er mit dem Bischof telefoniert: „Herr Bischof, wir müssen das bald machen – mit der Erlösung, Sie wissen schon“ – und der Bischof sei gut gelaunt gewesen und hätte ihn mal angehört. (Der Mann hat es auch nicht leicht!) Die Frage, wozu Jesus Klaus-Dieter (ich nenne ihn mal so) eigentlich den Bischof braucht, verkniff ich mir. Er ist nicht Zimmermann, allerdings auch Handwerker. Wir plauderten beinahe wie normale Wanderer. Dann kam das Ortschild – die Entfernungen sind im Erzgebirgsvorland zum Glück überschaubar. Er trug den Brief eines Fans bei sich, den er uns zeigte, und ich begann mich zu fragen, warum er eigentlich keine Homepage, keinen Facebook-Account oder ähnliches hat. Er scheint die neuen Medien nicht zu kennen oder nicht zu mögen – das zeugt von Persönlichkeit. Wir verabschiedeten uns freundlich. Der Messias kehrte in ein Café ein, um Wunder zu tun – all das, was ein Erlöser so machen kann mit einem angebrochenen Nachmittag, und wir gingen schnell weiter.
Auf unserem weiteren Weg kamen wir immer wieder auf ihn zu sprechen. Ich überlegte mir, wie sich das zu Beginn unserer Zeitrechnung so abgespielt haben mag, wie die Bewohner von Nazareth wohl auf ihren Mitbürger reagierten. Täglich Erweckungsgespräche übern Gartenzaun… „Morgen mach ich das dann mit der Erlösung – oder eher übermorgen, ich muss noch das Salatbeet umgraben“, „Ja ja, du bist Gottes Sohn, und ich muss jetzt Brötchen holen“ – meine Gedanken begannen zu kreisen und brachten immer neue, seltsame Phantasien hervor. Mir fiel ein, dass die Weihnachtsgeschichte genau davon berichtet, wie die Leute in ihrem Alltag von den Ereignissen aufgerüttelt und berührt wurden. Die Stadt ist voller Menschen und für den Erlöser ist kein Zimmer mehr frei… die Menschheit soll erlöst werden, aber eigentlich steckt sie in ihren Verrichtungen fest und hat keine Zeit dafür.
Ich mochte das Osterfest immer mehr als Weihnachten, und erst im Laufe der Zeit und nach gewichtiger Lektüre wurde mir bewusst, dass es da um mehr geht als die Frühlingsdekoration und das Familienessen. Als ich von der Nacht am Ölberg und der Kreuzigung las, war ich – Atheistin – tief bewegt. Niemand war da, der ihm beistand. Die Jünger waren schlafen gegangen. Es klingt so skurril und alltäglich. Unser Osterspaziergang wird sicher nicht in Mühlbach bei Reinhardtsgrimma stattfinden. (Irgendwann vielleicht mal wieder, wenn gerade kein Stress ist oder so.) Manches mag früher ähnlich verlaufen sein. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Leute den Philosophen und Wanderpredigern auch mal aus dem Weg gingen (Nicht der schon wieder, wir gehen mal lieber außen rum). Und nun beende ich meine Betrachtungen, muss noch Brötchen holen.
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