Sonntag, 9. Januar 2022
In der vierten Welle
Wir haben Anfang Januar. Ich stehe auf einem Plateau in dichtem Nebel und kann keinen Meter weit sehen. Irgendwo beginnt Absturzgelände, aber ich weiß nicht, in welcher Richtung und Entfernung und wie abrupt sich Abgründe auftun. Ich habe weder Kompass noch GPS bei mir (ich weiß, das sollte ich in einer Ausnahmesituation wie dieser eigentlich haben). Aber ich bin so plötzlich und meines Wissens auch ohne mein Zutun hier gelandet. Zum Glück gibt es Anweisungen und auch jede Menge Ratschläge. An manchen Tagen sagen die Politiker, es wird aufhören, in naher Zeit sogar wird sich der Nebel lichten, die schönsten Ausblicke nach allen Seiten werden sich auftun, und wir werden wieder genau wissen, wohin wir gehen wollen. An anderen Tagen steigt auch in ihnen die Panik auf, und es werden Schreckensszenarien von den tiefsten und weitesten Abgründen entwickelt. Erwarte ich zu viel, wenn ich einfach wieder eine Richtung, ein Ziel sehen möchte? Sei doch dankbar, tönen die Moralisten, schätze jeden Schritt, den du tust, so lange du noch gehen kannst. Von wegen Nebel – ist das nicht auch eine Herausforderung? Siehst du nicht, wie vielfältig die Grauschattierungen sind? Und von wegen, du kannst dein Leben nicht mehr gestalten. Beispielsweise kannst du ausprobieren, den Fuß mal stärker und mal sanfter aufzusetzen, du kannst mal die Zehen und mal die Ferse belasten. Oder du bleibst einfach auf der Stelle stehen, auch das ist ein Geschenk des Lebens, für das du dankbar sein solltest. Du kannst stehen bleiben und dich spüren – wunderbar. Allmählich wächst die Befürchtung, dass es vielleicht keinen Ausweg vom Plateau gibt. Aber wir üben uns in Geduld und gehen ganz langsam und vorsichtig, um nicht in den Abgrund zu stürzen. Wer will schon ein Ende mit Schrecken? Doch was, wenn die Alternative nur ein Schrecken ohne Ende ist?
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