Samstag, 11. Juli 2020
Ich bin Ossi - oder doch nicht?
Der schönste Moment meines bisherigen Lebens war jener, als wir die Bergstation am Kleinen Matterhorn hinter uns ließen, der Bergführer das gelbe Absperrband hochhob, das die Skipiste vom Gletscher trennte, und zu uns sagte: "Dann gehen wir mal auf die kleine Expedition". Da fühlte ich Schmetterlinge im Bauch tanzen.
Jene kleine Expedition (allein schon das Wort löst in mir Glücksgefühle aus) war die geführte Besteigung des Breithorns, eines der Viertausender um Zermatt - der einfachste Viertausender, genauer gesagt. Geübte Hochtourengeher würden darüber lächeln, aber für uns war es ein Abenteuer, das wir nicht auf die leichte Schulter nahmen - das sollte man bei einem Berg dieser Höhe nie, auch nicht beim Breithorn.
Einige erfahrene Leute hatten mir von dieser Tour abgeraten: es lohne sich nicht, das sei Massenbetrieb, da könne man nichts lernen, außerdem gebe es genügend Dreitausender um Zermatt, wo man keinen Bergführer braucht, man könne sich das Geld für die geführte Tour sparen. Kann man, aber es wäre so schade gewesen, wenn wir das nicht gemacht hätten (was jedoch keine Option war). Wir hatten Glück, es war Saisonende und somit war es vergleichsweise ruhig am Breithorn. Der Bergführer war der netteste und angenehmste, den wir bisher hatten - kein Macho, sondern einer, der den Teilnehmern das Gefühl gab, etwas Besonderes zu erleben. Und wir hatten traumhaftes Wetter. Ich denke, dass es der Höhepunkt meines Lebens war - im wahrsten Sinne. Die Ansage "viertausend Meter" werde ich nie vergessen, auch nicht den Gipfel, die Rundumsicht und den Blick hinunter zum Gornergrat, der winzig wirkte.
Damals dachte ich, dieser Viertausender-Besteigung würden weitere folgen. Ich dachte auch an höhere Berge. Höher, schneller, weiter - alles ist möglich, wenn man nur will - ich glaubte das wirklich, war von der Leistungsgesellschaft stärker geprägt, als ich es mir eingestehen wollte. Heute gehe ich davon aus, dass ich aller Wahrscheinlichkeit nach keinen so hohen Berg mehr besteigen werde.
Nun, da ich im Alltag ständig mit Absperrbändern, Richtungspfeilen und Schildern konfrontiert bin, die mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe, empfinde ich eine große Abneigung gegen all das. Es mag in der jetzigen Situation notwendig sein, aber ich hasse es und fühle mich oft wie im Kindergarten. Und ich erinnere mich häufig daran, wie toll ich es fand, über die Absperrung am Gletscher hinaus zu gehen. Ich habe in diesem Moment eine Seite von mir kennengelernt, die ich so intensiv nie ahnte. Denn eigentlich bin ich ängstlich und sicherheitsbedürftig. Überwiegend zumindest. Ich würde mich auch heute nicht als leichtsinnig einschätzen. Wir haben uns damals lange und gründlich auf das Breithorn vorbereitet. Aber ich liebe und brauche kleine und größere Abenteuer.
Wann immer in öffentlichen Diskussionen von Freiheit die Rede war, habe ich meist die Augen verdreht. Alles Heuchelei und Illusion, dachte ich. Die Freiheit, aus vierundzwanzig Waschmittelsorten zu wählen, braucht kein Mensch. In der Pandemie, während des Lockdowns, meinten so viele, erst jetzt wüssten sie, was wirklich zählt (und da musste ich die Augen verdrehen): Gesundheit, Gemeinsinn, Solidarität, die Familie. Alles schön und gut. Mir jedoch wurde bewusst, wie sehr ich Freiheit und Selbstverwirklichung schätze und brauche - und wie selbstverständlich mir all das geworden war. Ich fühle mich in diesem Land nicht zuhause, bis heute nicht. Dennoch bin ich keine DDR-Bürgerin, kein Ossi mehr. Und ich gebe denen Recht, die in der heutigen Zeit davor warnen, die Freiheit aufzugeben, Einschränkungen länger als notwendig zu akzeptieren und ihr Leben dem Bedürfnis nach vermeintlicher Sicherheit unterzuordnen.
Dann gab es tatsächlich Stimmen, die meinten, der Einzelne sei nicht wichtig. Und andere, die das gut fanden. Was soll daran gut sein? Individualismus und Eigenverantwortung gehören zusammen. Ich bin wichtig und muss mich um meine Interessen kümmern. Wer soll es denn sonst tun? Zweifellos ist mir die Familie wichtig, aber ohne Freiheit und Abenteuer und die Balance von beidem würde ich mein Leben nicht als gut und sinnvoll erachten.
Und ja, auch ich meine, dass es naheliegende schöne Ziele für Urlaubsreisen gibt. Doch niemals würde ich das Zuhause bleiben zur Tugend hochstilisieren, von wegen Redlichkeit und so weiter. Was soll dieser Unsinn! Es mag in der jetzigen Situation vernünftig sein - aber das ist schon alles. Gut ist es nicht. Kein virtueller Ausflug wird je an eine echte Reise heranreichen. Es geht nicht nur um schöne Bilder, sondern das Vertraut werden mit dem bisher Unbekannten. Es geht auch um Spannung, Freude, Spaß - um all die schönen Dinge des Lebens, die man durchaus auch zuhause erleben kann, aber eben nicht nur dort. Es geht darum, Grenzen zu überschreiten - Ländergrenzen, aber auch sprachliche, kulturelle, und vor allem die eigenen. Ich bin dankbar dafür, dass mir das öfter möglich war, und hoffe auf eine Zukunft, in der all das wieder sein wird.
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